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Was ist Abolitionismus?

Weißbach 北京德国文化中心歌德学院
2024-09-02

© Pixabay


Was können wir lernen von einer philosophischen Strömung, die die Abschaffung der Polizei, von Gefängnissen und von Lagern für Geflüchtete fordert? Und was soll an die Stelle dieser Institutionen treten? Im Interview erläutert der Philosoph Daniel Loick einen Gegenentwurf zur derzeitigen Politik des Tötens.

Interviewer: Friedrich Weißbach


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Herr Loick, was ist Abolitionismus?

Der Begriff Abolitionismus kommt vom englischen Wort „Abolition“ und steht für Abschaffung. Ursprünglich bezeichnete der Begriff den Kampf gegen die Versklavung in der Karibik und den USA im 19. Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert wurde dieser Begriff dann von anderen Bewegungen aufgegriffen, die sich in diese Tradition stellten und daran erinnerten, dass das Versprechen der Abolition weiterhin nicht eingelöst ist. Zwar gibt es etwa in den USA eine rechtliche Gleichstellung von schwarzen und weißen Menschen, unter der Hand haben sich aber Strukturen des Rassismus und der Unterdrückung erhalten und reproduziert.  Dies hat die abolitionistische Theorie und Praxis im Laufe der Zeit anhand verschiedener Themenfelder klarzumachen versucht. Dazu gehörte etwa der Kampf gegen die Todesstrafe, die überproportional häufig gegen schwarze Menschen verhängt wird, sowie der Kampf gegen die Masseneinsperrung in Gefängnissen insbesondere seit der rasanten Zunahme von Inhaftierungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der Gegenwart hat die Bewegung des Abolitionismus besonders mit der Polizeikritik im Rahmen der Black-Lives-Matter-Bewegung neue Aufmerksamkeit bekommen. Es wurde immer deutlicher, dass Formen staatlicher Gewalt – in Form von Einsperrung, Polizeigewalt sowie Gewalt, die sowohl an den als auch durch die nationalstaatlichen Grenzen ausgeübt wird – nicht nur tief in unsere gesellschaftliche Normalität eingebettet sind, sondern auch in einem überdurchschnittlich hohem Maße rassifizierte Subjekte, also schwarze Menschen und Menschen of Color betrifft. Der Abolitionismus verfolgt die Agenda einer grundlegenden Abschaffung dieser Unterdrückungs- und Herrschaftsmechanismen. 

Gibt es konkrete Forderungen, die abolitionistische Bewegungen verfolgen?

Ja. Um den Horizont der Forderungen des Abolitionismus besser einzugrenzen, können wir zur ursprünglichen Idee dieser Bewegung, wie sie von W. E. B. Du Bois in seinem Buch Black Reconstruction formuliert wurde, zurückgehen. Darin beschreibt er die Zeit unmittelbar nach dem amerikanischen Bürgerkrieg und entwickelt das Konzept der „abolition democracy“ zur Benennung einer realen sozialen Bewegung. Deren Grundidee war es, dass immer zwei Sachen zusammenkommen müssen: Einerseits eine negative Bewegung im Sinne eines Abwehrkampfs gegen Formen von Unterdrückung und staatlicher Gewalt, wie in diesem Fall der Versklavung. Andererseits ist dieser negative Aspekt jedoch verkürzt, wenn er nicht auch mit einem positiven Aspekt einhergeht. Und das bedeutet der Aufbau von neuen Institutionen. Am Beispiel der Versklavung wären das Institutionen, die eine ökonomische und politische Teilhabe der Betroffenen garantieren, also konkret ökonomische Macht und politische Rechte. Am Beispiel der Versklavung zeigt sich, dass sich unmittelbar nach der formalen Emanzipation auf den Plantagen ganz ähnliche Arbeitsbedingungen reproduziert haben, diesmal unter dem Deckmantel der Lohnarbeit. Zudem waren ehemals versklavte Menschen von rassistischen Sondergesetzen und extralegaler Gewalt, etwa durch den Ku-Klux-Klan betroffen. Es reicht also nicht, wenn die versklavten Menschen einfach in die bestehende Gesellschaft integriert werden, vielmehr muss diese Gesellschaft in ihren Grundstrukturen verändert werden. Diese doppelte Bewegung von einem negativen und einem positiven Aspekt kann man auch heute in abolitionistischen Bewegungen sehen. Wenn Abolitionist*innen sich zum Beispiel gegen Gefängnisstrafen oder gegen die Polizei wenden, dann ist das einerseits eine negative Bewegung – eine konkrete Form der Gewalt soll wegfallen. Gleichzeitig bedeutet das aber immer auch den Aufbau von neuen Strukturen sozialer Teilhabe. Damit werden Probleme von Polizeiproblemen in soziale Probleme umgedeutet. Zur Herstellung von Sicherheit schlagen Abolitionist*innen zum Beispiel vor, statt in die Polizei in bessere Gesundheitsversorgung, bessere Versorgung mit Wohnraum und neue Konfliktschlichtungsmechanismen zu investieren. Abolitionismus bedeutet also nie einfach nur Destruktion, sondern zugleich auch immer Konstruktion. 

© Unseen Histories, unsplash.com

Gibt es neben Du Bois noch andere Denker*innen oder Denktraditionen, auf die sich der Abolitionismus beruft? Gibt es einen ideengeschichtlichen Faden, den man ziehen kann?

Da gibt es sehr viele! Eine der wichtigsten Theoriebestände ist die Black Radical Tradition, also die Tradition schwarzer radikaler Denker*innen. Der Begriff stammt von Cedric Robinson, der in seinem Buch Black Marxism versucht, eine Kapitalismuskritik mit einer Rassismuskritik zusammenzudenken. In diesem Zug kann auch C. L. R. James als eine weitere wichtige Stimme genannt werden, ein schwarzer marxistischer Theoretiker, der insbesondere die Abolition in Haiti untersucht hat. Für die neuere abolitionistische Bewegung erweist sich Angela Davis als eine der wichtigsten Stichwortgeber*innen. Davis hat den Begriff des Abolitionismus als Perspektive gegen Masseninhaftierung Anfang der Zweitausender Jahre einem größeren Publikum überhaupt erst bekannt gemacht. Dabei tritt sie für eine Abschaffung von Gefängnissen ein. Ihre Kritik wurde im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung aufgenommen und verbreitet. Eine andere zentrale abolitionistische Denkerin der Gegenwart ist Ruth Wilson Gilmore. Sie ist eine Humangeografin, die vor allem die räumlichen Strategien von karzeralen Regimen, das heißt von Regimen, die auf Einsperrung und Isolation von Menschen zielen, analysiert und versucht, Alternativen zu entwickeln. All diese Theoretiker*innen sehen sich nicht als Genies oder Vordenker*innen, sondern als Teil einer kollektiven Auseinandersetzung, weswegen sie ununterbrochen im Dialog mit politischen und praktischen Bewegungen und Initiativen bleiben. Eine solche Gruppe wäre beispielsweise Critical Resistance, die unter anderem von Davis und Gilmore mitgegründet wurde und die sich gegen den Ausbau des Gefängnissystems wendet. Diese Verquickung mit der Praxis ist für die Theorieentwicklung des Abolitionismus als spezifischer Ansatz mindestens genauso wichtig wie einzelne Theoretiker*innen, da sich diese Theoriebildung immer in Auseinandersetzung mit der Bewegung vollzieht. Insgesamt sollte aber betont werden, dass es sich beim Abolitionismus keineswegs um eine homogene Bewegung handelt. Viele Grundfragen sind umstritten oder noch offen. So gibt es etwa eher sozialistische, kommunistische oder anarchistische Varianten des Abolitionismus. Auch die Analyse des Gefängnissystems ist umstritten. Dabei steht etwa die Frage im Raum, ob es eine biopolitische oder eine nekropolitische Funktion hat.  

Was meinen Sie hier mit Biopolitik und Nekropolitik? 

Es gibt innerhalb des Abolitionismus eine Diskussion in der empirischen Analyse davon, was die Funktion des Gefängnisses in der Gesellschaft ist. Die eine Position sagt, es geht darum, bestimmte Arbeitskräfte produktiv zu machen. Dies wird etwa mit dem auch von Angela Davis verwendeten Begriff des „Prison Industrial Complex“ suggeriert. Das wäre eine biopolitische Analyse im Sinne Foucaults: Es geht darum, das Leben zu steigern und sozusagen die Ausbeutung über bestimmte Körper zu intensivieren. Dieser Vorgang ist dabei immer rassistisch ausdifferenziert. Manche Körper werden produktiv gemacht, indem man ihnen Anreize schafft, und andere, indem sie karzeralen Regimen unterworfen werden. Eine andere Perspektive wäre, dass es bei der Inhaftierung gar nicht so sehr um ein Produktivmachen geht, sondern um ein Verwalten von Unproduktivität, um Formen des „organized abandonment“, wie Gilmore sagt, also der organisierten Vernachlässigung. Es geht demnach also nicht um eine Produktion von Leben, sondern um eine Produktion von vorzeitigem Tod. Die rassifizierte Differenzierung bestimmt demnach, ob dein Leben zu einem Weiterleben oder zu einem frühzeitigen Tod prädisponiert ist. Viele globale Entwicklungen sprechen meiner Meinung nach für die zweite These, also dass wir es heute eher mit nekropolitischen als mit biopolitischen Strategien zu tun haben. Zu nennen ist die Polizeigewalt, die regelmäßig den Tod bestimmter Leben in Kauf nimmt. Oder die Lager der Grenzregime, bei denen es gar nicht mehr um das Produktivmachen geht, sondern einzig um dauerhafte räumliche Lösungen für Bevölkerungsgruppen, die als überflüssig oder unerwünscht angesehen werden. Und wenn man das in Zusammenhang mit einer Analyse von Kapitalismus und speziell „racial capitalism“ stellt, dann sieht man zum Beispiel auch, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen auch weniger sichtbaren Formen von „organized abandonment“ ausgesetzt sind – dem Leben unter vergifteten Umweltbedingungen oder in gefährlichen Arbeitsverhältnissen etwa. Es handelt sich auch dabei meistens um rassifizierte, migrantisierte und proletarisierte Subjekte. Und natürlich sind diese Menschen einerseits produktiv, aber sie werden eben auch immer – mit Gilmore gesprochen – einem vorzeitigen Tod ausgesetzt bzw. wird dieser billigend in Kauf genommen.

© Pixabay


Also ist das Nekropolitische ein vorzeitiges Töten?

Ja, das Töten oder dem Tod aussetzen. Nekropolitik kann in einer ganzen Reihe von Formen auftreten. Eine Form ist, dass dich die Polizei erschießt: In den USA sprechen wir mit über Tausend Menschen pro Jahr – also drei Menschen jeden Tag – von wirklich dramatischen Zahlen. Aber wenn man ins Gefängnis gesteckt und isoliert, durch ökologische Zerstörung seiner Lebensgrundlagen beraubt oder durch territoriale Grenzziehungen von einer politischen Teilhabe ausgeschlossen wird, wird das eigene Leben zur Disposition gestellt. Das alles sind Formen von „abandonment“, in dem Sinne, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen als entbehrlich angesehen werden. Und dagegen entwickelt der Abolitionismus eine andere Vision, nämlich die, dass niemand entbehrlich ist – und dass wir eine Welt schaffen müssen, in der wir nicht mehr so leichtfertig bereit sind, den Verlust menschlichen Lebens zu akzeptieren oder für normal zu halten. 

Wo sehen Sie am meisten Bedarf für abolitionistische Kritik?

Für mich ist einer der wichtigsten Ansatzpunkte gegenwärtig die Kritik des Grenzregimes. Hier sieht man sowohl die Dringlichkeit als auch die Plausibilität von Abolitionismus am besten. Seit Jahren beobachten wir die unmenschlichen Zustände in den Lagern, auf dem Mittelmeer und an den europäischen Außengrenzen, die u. a. von der europäischen Grenzschutzagentur Frontex aktiv hergestellt werden. Ich halte es für unrealistisch, dass diese Fluchtbewegungen einfach aufhören. Im Gegenteil: Angesichts der zunehmenden ökologischen Katastrophen und kriegerischen Auseinandersetzungen weltweit werden sie wohl eher zunehmen. Also gibt es zwei Optionen: Entweder wir werden diese und mehr Tote für die Zukunft in Kauf nehmen – das ist die Option der Barbarei. Oder wir müssen aus einer abolitionistischen Perspektive für die Abschaffung der staatlichen Grenzgewalt eintreten und neue Formen der politischen Organisation finden, die auf einem anderen als einem nationalen Verständnis von Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaft basieren. 

© Sam Mann, unsplash.com


Aber was wäre diese Alternative?

Auf der einen Seite beinhaltet die abolitionistische Perspektive eine negative Abwehr von Grenzgewalt, wie sie etwa auch in einer No Border-Politik betrieben wird – kein Staat hat das Recht, die Mobilität von Geflüchteten einzuschränken. Auf der anderen Seite geht es hier wieder nicht einfach darum, dass etwas wegfällt, sondern dass auch neue Formen des Zusammenlebens gefunden werden, die eben nicht länger auf dem Prinzip territorialer Grenzen basieren. Diese könnten sich etwa an der Idee des Refugiums oder der Sanctuary City orientieren, wie sie bereits von einigen europäischen Städten ausprobiert werden. Das Refugium fragt nicht: „Hast du Papiere?“, sondern: „Was brauchst du, was sind deine Bedürfnisse?“. Hier finde ich es spannend, diese Frage zum Beispiel mit der Frage der Commons zu verbinden, also einer städtischen Infrastruktur, die allen offen steht, unabhängig von irgendeinem Titel oder Anspruch. Wenn wir uns an diesen Fragen orientieren, wird die abolitionistische Perspektive plötzlich sehr konkret, sehr pragmatisch und realpolitisch. Letztlich müssen uns einfach fragen, in welchen Städten und Welten wir leben wollen. Wenn Leute gegen den Abolitionismus also einwenden, er sei utopisch und unvorstellbar, würde ich entgegnen, das eigentlich Unvorstellbare ist doch der Jetztzustand. So wie Walter Benjamin sagt, die Katastrophe ist kein Ausnahmezustand oder eine Krise, sondern „daß es 'so weiter' geht, ist die Katastrophe“. 

Lässt sich die Kritik an den Institutionen wie Polizei oder Gefängnis, die in der Debatte vor allem vom US-amerikanischen Kontext ausgeht, einfach auf den europäischen Kontext übertragen? Besteht da nicht die Gefahr der analytischen Unschärfe, wenn man das macht?

Es stimmt, dass viele der Theorien im amerikanischen bzw. nordamerikanischen Kontext entwickelt wurden. Und ich würde nicht sagen, sie lassen sich einfach übertragen, weil der deutsche Kontext natürlich ganz anders funktioniert. Es gibt ganz andere historische Kontinuitätslinien und auch ganz andere soziologische Funktionsweisen von Strafinstitutionen, die immer konkret analysiert und kritisiert werden müssen. Zugleich ist aber der Abolitionismus von vornherein international und transnational ausgerichtet. Insofern können auch von der amerikanischen Diskussion Ansatzpunkte kommen, die für hiesige Politiken und Analysen inspirierend sein können. Zu nennen wäre beispielsweise die Analyse von „racial capitalism“, die in Deutschland durchaus auch eine Rolle spielt, aber häufig nicht richtig reflektiert wird. Auch die internationalen feministischen Diskussionen, die sich aus der abolitionistischen Debatte ergeben haben, sind wegweisend. 

Gibt es auch deutsche Debatten, an die man anknüpfen kann?

Deutschland hat eine eigene abolitionistische Vorgeschichte. Etwa die Kämpfe von Refugees, die schon seit den 90er Jahren häufig unter Slogans wie „abolish Lager“, „abolish Frontex“, „abolish Festung Europa“ geführt wurden und in denen bereits abolitionistische Ideen und Kritiken an staatlicher Gewalt zirkulierten. Auch die Antirepressionsarbeit von Gruppen, die sich mit politischen Gefangenen solidarisieren, ist hier zu nennen. Außerdem gibt es in Deutschland auch eine Traditionslinie in der Rechtstheorie und der kritischen Kriminologie mit Theoretiker*innen wie Johannes Feest, Gerlinda Smaus, Heinz Steinert, Helga Cremer-Schäfer, Klaus Günther und vielen mehr. Diese in den 1980er Jahren entstandenen Ansätze plädieren für eine grundsätzliche Abschaffung des Strafrechts. Das sind verschüttete Debatten, die heute im europäischen oder deutschen Kontext eher vereinzelt sind, die aber interessante Verbindungen zu den neuen von Black-Lives-Matter inspirierten Bewegungen ziehen können. Gegenwärtig ist wohl eine der wichtigsten abolitionistischen Vertreter*innen Vanessa Thompson, von der ich in der Zusammenarbeit besonders für den jetzt erscheinenden Reader unendlich viel zu diesem Thema gelernt habe.

Wenn Sie davon sprechen, dass abolitionistische Bewegung antirassistisch sind, bedeutet das, dass diese notwendig antirassistisch sein müssen? Impliziert eine Kritik an Polizei und Militär immer schon eine antirassistische Dimension? Oder ist auch eine abolitionistische Kritik an Polizei jenseits von Rassismus vorstellbar?

Abolitionist*innen würden sagen, dass Polizeigewalt, die Gewalt karzeraler Regime sowie Grenzgewalt gar nicht unabhängig von race zu denken sind. Race ist demnach ein zentraler Teil nicht nur der Legitimationsnarrative dieser Institutionen, sondern auch der tatsächlichen Funktionsweisen. Demnach muss dieser Faktor immer mitgedacht werden. Wenn man das nicht macht, dann verpasst man ein wichtiges Element der Macht- und Herrschaftslogiken. Besonders spannend ist meiner Meinung nach daran, dass der Abolitionismus diese komplett bescheuerte Gegenüberstellung von Klassenkampf versus Identitätspolitik aufbricht, wie man sie in vielen linken Debatten zurzeit beobachten kann. Abolitionismus geht ganz selbstverständlich davon aus, dass die Kategorien von class, race, gender und anderen Unterdrückungsmechanismen integral zusammengehören und sie nicht erst im Nachhinein miteinander addiert werden müssen. Deshalb ist es auch ein wenig irreführend, wenn man den Abolitionismus jetzt nur auf race abstellt, weil dieser immer schon die Kombination mindestens aus Klassenposition und Gender mitdenkt. Betrachtet man beispielsweise die Praxis der Inhaftierung, wird offensichtlich, dass die Einsperrung fast ausschließlich arme Menschen betrifft und deswegen wesentlich auch eine Klassenfrage ist. Außerdem ist für den Abolitionismus klar, dass die Auswirkungen von Inhaftierung nicht an den Gefängnismauern aufhören – auch wenn weitaus weniger Frauen eingesperrt sind als Männer, hat das Gefängnissystem Auswirkungen auf das Leben von Frauen, weil diese die Hauptarbeit in den zurückgelassenen Communities machen. 

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Was ist die Kritik abolitionistischer Theorien an der Polizei?

Die abolitionistische Kritik, wie sie sich in den letzten zwei Jahren entwickelt hat, ist stark inspiriert durch die Black-Lives-Matter-Bewegung, die ja durch eine ganz unmittelbar erlebte, rassistische Polizeigewalt angetrieben wurde – etwa den Morden an George Floyd in Minneapolis und Breonna Taylor in Louisville. Dabei sind die Auswirkungen des Polizierens nicht auf solche dramatischen Todesfälle beschränkt, sondern umfassen auch alltägliche und subtile Formen von Schikanen und Diskriminierungen. Die Polizei ist dabei geprägt von einer differentiellen Funktionsweise, sie adressiert zum Beispiel People of Color anders als weiße Menschen. Die abolitionistische Polizeikritik ist aber nicht zu verwechseln mit einer reinen Repressionskritik in dem Sinne, dass es etwas Äußeres ist, was man einfach abschütteln kann. Sondern die Wirkungen der Polizei prägen unsere ganze Subjektivität. Und eben auch differentiell: Für viele Menschen of color bestimmt die Erwartung einer Polizeibegegnung zum Beispiel, welche Orte sie aufsuchen und welche sie meiden.  Wenn ich auf der anderen Seite als weiße Person immer wieder vorgeführt bekomme, wie schwarze Personen an die Wand gestellt und durchsucht werden, dann prägt mich das auch. Mir wird zum einen vermittelt, wen ich als Bedrohung meiner Sicherheit ansehen soll, zum anderen, dass die Polizei mich vor diesen gefährlichen Elementen beschützt. Abolitionistische Theorien und Praktiken versuchen demgegenüber, die Selbstverständlichkeit der Institution der Polizei aufzubrechen. Die Polizei ist die falsche Institution, um gesellschaftliche Sicherheit herzustellen und das gesellschaftliche Gewaltaufkommen zu vermindern. Stattdessen sollten wir eine ganze Reihe anderer Institutionen, die weniger gewaltbasiert sind, zur Lösung sozialer Probleme und zur Schlichtung von Konflikten entwickeln.
 
Über Jahre haben feministische Aktivistinnen dafür gekämpft, dass Frauen bei häuslicher Gewalt zur Polizei gehen und die Täter anklagen. Ist es nicht gut, dass die Polizei genau in solchen Fällen einschreiten kann?

Hier müssen wir uns zurückerinnern an Du Bois und daran, dass Abolitionismus nie bedeutet, dass einfach nur etwas wegfällt, sondern dass der Prozess der Abolition immer auch einhergeht mit dem Aufbau von alternativen Strukturen und Institutionen. Das Thema der häuslichen oder sexualisierten Gewalt ist ein Kernthema besonders abolitionistischer Feminist*innen. Sie machen erstens darauf aufmerksam, dass dieses Problem von der Polizei statt gelöst häufig noch schlimmer gemacht wird. Studien in den USA zeigen etwa, dass Polizeibeamte selbst viermal mehr zu häuslicher Gewalt neigen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Auch in Deutschland vermeiden viele Frauen, insbesondere migrantisierte Frauen und Frauen mit prekären Aufenthaltsstatus, zur Polizei zu gehen, wenn sie Opfer von sexualisierter Gewalt werden. Und die Skandale der Frankfurter Polizei der letzten Jahre, wo sich mehr als 100 Polizisten in rechtsextremen Chats organisierten, zeigen warum. Wenn du in Frankfurt die Polizei rufst, musst du davon ausgehen, dass es immer sein kann, dass ein Rechtsradikaler kommt. Da fragt man sich doch, will man diesen Leuten wirklich die Macht oder Kompetenz zu sprechen, mit Situationen von Gewalt und Trauma umzugehen? Zweitens gibt es andere Institutionen, die diese Aufgaben besser lösen können.

Wie sähen diese anderen Institutionen denn konkret aus?

Das kann man sich anhand einer alten Kritik der deutschen Frauenbewegung vergegenwärtigen. Für die waren die Polizei und die Gewalttäter im Nahumfeld beide Teile desselben patriarchalen Systems. Deshalb ist es zu kurz gedacht, die einen männlichen Gewalttäter als Schutz vor den anderen zu rufen. Die Frauenbewegung hat daraus den Schluss gezogen, dass es selbstorganisierte Strukturen braucht, die ohne Staatsgewalt auf Übergriffe reagieren können. Durch diesen Grundgedanken sind die autonomen Frauenhäuser entstanden. Ziel war es, selbst Orte zu schaffen, in denen für Frauen in ihrer konkreten Lebenslage und für ihre konkreten Probleme eine konkrete Lösung gefunden wird. Es galt zunächst einmal, der Frau die Möglichkeit zu verschaffen, von Zuhause auszuziehen und so die gewaltvolle Situation zu verlassen. Und ich glaube, dass man diese Idee ausweiten kann. Allein wenn man sich überlegt, wie viele finanzielle, aber auch imaginative Ressourcen in die Polizei reingesteckt werden, und was man damit machen könnte, um Alternativen für die Betroffenen von sexualisierter Gewalt zu schaffen. Vielen Gewaltbetroffenen ist durch eine Verhaftung oder Bestrafung des Täters – zu der es ja häufig auch gar nicht kommt – nur begrenzt geholfen. Viel wichtiger sind soziale Absicherung, Wohnen oder Kinderbetreuung. Und diese ganz konkreten Maßnahmen stehen im Kontext eines breiteren, gesamtgesellschaftlichen Kampfes gegen patriarchale Strukturen und sexistische Gewalt.

© Raquel Garcia, unsplash.com


Wie lassen sich Gesellschaften ohne Kontrollinstanzen wie der Polizei vorstellen? Gibt es da schon konkrete Ausarbeitungen oder Vorschläge von abolitionistischen Bewegungen?

Ein häufig zitierter Satz von Gilmore ist: „abolition is presence“ – Abolition ist kein Fernziel, sondern sie existiert bereits, in vielfältigen Formen. Ihre Idee ist, dass es Gruppen und Communities gibt, die ohnehin außerhalb von staatlichem Schutz leben und selbst keinen Zugriff auf die Polizei haben, die also nicht die Polizei rufen können, um beispielsweise Sicherheit herzustellen. Diese Communities haben eigene Methoden und Umgangsweisen entwickelt, auf die man auf der Suche nach alternativen Strukturen aufbauen kann. Eines der sehr häufig diskutierten und weit verbreiteten Beispiele ist etwa die sogenannte „transformative Justice“ („transformative Gerechtigkeit“). Dabei handelt es sich um eine vor allem von Frauen of Color entwickelte Antwort auf sexualisierte Gewalt und intime Gewalt von Partnern, die sich nicht auf die Polizei beruft. Denn ihre Analyse und Erfahrungen sind, dass sobald sie die Polizei rufen, diese die Situation in den meisten Fällen noch schlimmer macht. Gleichzeitig wollen sie aber auch nicht akzeptieren, dass Frauen Opfer von Gewalt innerhalb der eigenen Beziehungen oder Communities werden. Das Konzept der „Community Accountability“ („gemeinschaftliche Verantwortungsübernahme“) war ein Ergebnis dieses Versuchs: Eine Gewalttat wird dabei nicht als eine Angelegenheit zwischen der betroffenen Person und einem Täter verstanden, sondern als etwas, bei dem das gesamte Umfeld in den Aufarbeitungsprozess mit einbezogen werden muss. Ziel des Prozesses ist nicht einfach, eine Person auszuschließen oder zu bestrafen, sondern eine Transformation der gesamten Konstellation zu erreichen, die sich zum einen an den konkreten Bedürfnissen der Betroffenen orientiert und zum anderen auch nachhaltig ist und eine Verhaltensänderung des Täters ermöglicht. Der Ansatz steht damit im Gegensatz zu staatlichen Strafinstitutionen, die das eher verhindern, weil sie einfach auf Isolation eines gefährlichen Elements abzielen, den Rest der Konstellation aber intakt lassen. Das Modell der transformative Justice ist sicherlich nicht perfekt und lässt viele Fragen offen. Aber es ist ein Beispiel dafür, wie im ganz Kleinen Konzepte entwickelt werden, die dann anleitend sein können für gesamtgesellschaftliche Alternativen. 

Warum bedarf es direkt der Abschaffung? Warum kann die Polizei sich nicht von innen heraus reformieren? Warum reicht es nicht, wenn man mehr Frauen einstellt und rassistische Strukturen hinterfragt und abbaut?
 
Der Abolitionismus ist zum größten Teil eine Reformismuskritik. Diese wurde aus der Analyse von den konkreten Wirkungsweisen staatlicher Gewalten heraus entwickelt. Dabei stellen Abolitionist*innen einfach fest: Sowohl die Polizei als auch das Gefängnis wurden durch die Geschichte hindurch immer wieder und immer neu reformiert. Dies hat aber an deren grundsätzlicher Struktur nicht viel geändert, außer dass es häufig die Legitimation dieser Institutionen vergrößert hat. So hat beispielsweise die Änderung der Einstellungspolitik in der Polizei erwiesenermaßen nicht zu einer Veränderung der Institutionen als solcher geführt. Sowohl in den USA als auch in Deutschland wurden in den letzten Jahrzehnten mehr schwarze bzw. migrantische Menschen sowie Frauen als Polizist*innen angestellt. Aber schwarze Polizist*innen sind häufig nicht unbedingt weniger rassistisch als weiße. Das liegt daran, dass sie in einem Umfeld handeln, in dem sie sich die ganze Zeit vor ihren Kolleg*innen beweisen müssen und einem bestimmten Druck ausgesetzt sind, der sie veranlasst häufig sogar noch härter vorzugehen als diese. Man kann, die Institutionen multikultureller machen, aber diese beruhen auf bestimmten Funktionsweisen, die auf gewaltförmigen Durchsetzungen beruhen und nicht auf Teilhabe und Selbstbestimmung. Auch Reformen, die auf technische Lösungen setzten, wie beispielsweise Bodycams, sind gescheitert. Straftaten der Polizei werden nicht verfolgt, obwohl die ganzen Delikte dokumentiert sind – das Problem bestand nie in fehlendem Wissen oder fehlenden Beweisen, sondern in den strukturellen Hierarchien der Exekutivorgane. Letztlich führen solche Lösungsvorschläge nur dazu, dass immer mehr Gelder in die Polizei gesteckt werden, statt sie abzubauen und Alternativen auszubauen. Aufgrund dieser Erfahrungen gibt es eine sehr große Skepsis gegenüber vielen Reformmaßnahmen. Insgesamt müssen deswegen strukturelle und gesamtgesellschaftliche Lösungen gefunden werden, und nicht welche, die nur an der Polizei selbst herumdoktern.

Warum können diese Strukturen nicht reformiert werden? Woran liegt das?

Der Abolitionismus vertritt die These, dass strukturelle Mechanismen grundlegende Änderungen an diesen Institutionen verunmöglichen. Die Polizei – genauso wie das Militär – ist strukturell hierarchisch organisiert und auf Gewalt als Mittel angewiesen. Dies hat etwa den Effekt, dass es in der Polizei immer mehr Rechte als Linke geben wird, einfach weil diese Struktur bestimmte Milieus anzieht. Das heißt aber nicht, dass man grundsätzlich alle Reformforderungen ablehnen würde. Es gibt auch Reformen, die im Abolitionismus „nicht-reformistische Reformen“ genannt werden. Sie sind geeignet, Teil eines grundlegenderen Transformationsprozesses zu sein, statt nur die Institution zu verbessern. Die Forderung eines Defundings, also die Mittel immer weiter abzubauen und sie in andere Institutionen zu stecken, ist eine davon. Ein anderes Beispiel sind die Entkriminalisierungsforderungen, wie zum Beispiel die Forderung nach der Entkriminalisierung des Drogenverkaufs und -konsums. Wenn man das in Deutschland durchsetzen würde, würde eine wichtige Rechtfertigung des alltäglichen Racial Profiling direkt wegfallen. Das wäre eine konkrete Möglichkeit, wie man auch durch Reformen staatliche Gewalt reduzieren kann – solange sie in einem abolitionistischen Horizont gedacht bleiben.  

Aber hat der gesamtgesellschaftliche Diskurs um Frauenrechte und die gleichzeitige Hinzunahme von mehr Frauen in der Polizei nicht den Umgang mit den Straftaten gegen Frauen verändert? Sind in den letzten 40 Jahren nicht viele Sachen auch von staatlicher Seite sehr viel sichtbarer gemacht wurden, die vorher nicht sichtbar waren? Kann man da nicht doch von einer erfolgreichen Reform sprechen?

Da würde ich auf jeden Fall zustimmen. Es gibt eine ganz große Veränderung dahingehend, wie ernst Gewalt gegen Frauen genommen wird. Das ist gesamtgesellschaftlich ein großer Erfolg der feministischen Bewegung. Aber es gibt darin auch bestimmte Ambivalenzen, wenn beispielsweise die feministische Bewegung – als eine sehr stark von weißen Frauen geprägte Bewegung – selbst anfängt, staatliche Gewalt einzufordern. Das hat man zum Beispiel 2016 nach der Silvesternacht in Köln gesehen, wo der Kampf gegen Sexismus und patriarchale Gewalt benutzt wurde, um Rassismus zu stärken und eine schärfere Abschiebepolitik einzufordern. Das reproduziert dann auch neue Formen von patriarchaler Gewalt und trifft besonders die vulnerabelsten Frauen, also Frauen of Color und Frauen mit unsicherem Aufenthaltsstatus. Frauen of Color mussten deshalb immer wieder gegenüber dem Mainstream Feminismus einfordern, die Probleme nicht nur aus der weißen Perspektive zu denken. 

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Im Kontext des Ukraine Kriegs findet gerade eine historische Wiederaufrüstung statt. Befürworter dieser Aufrüstung sagen, dass ein starkes Militär notwendig sei, um sich vor Feinden wie Russland im Zweifelsfall schützen zu können und letztlich Frieden zu wahren. Welche Haltung nimmt hier der Abolitionismus ein? Was kann man denjenigen antworten, die mit Verweis auf das Schicksal der Ukraine die Notwendigkeit einer starken Armee unterstreichen?

Wie in anderen politischen Kontexten, so wird auch innerhalb des Abolitionismus zurzeit intensiv um eine Positionierung zum Ukraine-Krieg gerungen. Es gibt daher nicht die Antwort des Abolitionismus auf diese Frage, sondern der Abolitionismus ist auch da ein heterogener Diskussionskontext, in dem sehr unterschiedliche Positionen vertreten werden. Diese reichen von radikal anarchistischen bis hin zu eher befreiungsnationalistischen Positionen. Grundsätzlich ist aber Kritik am Militarismus ein wichtiger Bestandteil des Abolitionismus, wie auch die Kritik am Imperialismus vieler westlichen Staaten. Die Idee, dass die eigenen geostrategischen Machtinteressen militärisch oder durch kapitalistische Mittel durchgesetzt werden können, wird genauso kritisiert, wie die Auswirkung des Militarismus nach innen hinsichtlich der Verstärkung patriotischer, nationaler und maskulinistischer Symboliken. Zugleich sind aber abolitionistische Bewegungen nicht per se pazifistisch und haben in der Geschichte, wie beispielsweise bei den Black Panthers, auch teilweise einen bewaffneten und militanten Widerstand praktiziert. Das gleiche gilt für anti-koloniale Befreiungskämpfe, die ja häufig mit paramilitärischen Mitteln geführt wurden. In dieser Unentschiedenheit sehe ich im Abolitionismus aber auch eine Chance für eine dritte Position, jenseits der Aufrüstung einerseits und der aus meiner Sicht naiven Hoffnung auf die Diplomatie andererseits. Im Fall der Ukraine, das ist jetzt meine persönliche Antwort, würde die zentrale abolitionistische Intervention so lautet, dass wir davon wegkommen müssen, den Konflikt nur als Konflikt zwischen Nationalstaaten zu sehen. Also zu sagen, da gibt es Ukraine versus Russland, um dann anschließend zu fragen, was Deutschland oder der Westen jetzt machen sollen. 

Wie sollte man es denn sonst verstehen?

Staaten sind immer umkämpfte Konstellationen unterschiedlicher Kräfte, die auch quer zu den nationalen Grenzen Verbindungen zu den Kräften anderer Staaten unterhalten. Es gibt zum Beispiel eine internationale Gewerkschaftsbewegung oder internationale Vernetzung von Feminist*innen – da kämpfen ukrainische und russische Feminist*innen gemeinsam gegen Militarismus. Und es gibt ebenso auch rechte Strukturen, in denen sich deutsche Nazis und ukrainische Faschisten verbrüdern. Diese Widersprüche werden verdeckt, wenn man nur in der Logik der Nationalstaaten denkt. Der erste Schritt wäre daher, diesen Nationalismus aufzubrechen und genauer hinzusehen, welche Akteur*innen an dem Konflikt beteiligt sind und wo sich auch Konfliktlinien herausbilden, die quer zu der militärischen Konfrontation stehen. Der zweite Schritt ist, sich selbst innerhalb dieser Konstellation zu positionieren. Für die Frage einer abolitionistischen Perspektive auf den Krieg ist dabei für mich entscheidend, solidarisch vor allem mit der ukrainischen Bevölkerung zu sein. Das bedeutet, sich den Strukturen linker ukrainischer Selbstorganisationen wie den Gewerkschaften, den feministischen Bewegungen oder den Graswurzelorganisationen zuzuwenden und nach ihren Bedürfnissen und Forderungen zu fragen. Und wenn ich das richtig interpretiere, sind eigentlich fast alle linken Bewegungen in der Ukraine zurzeit auch für Waffenlieferungen aus dem Westen. Ukrainische Feminist*innen bestehen zum Beispiel auf ihrem fundamentalen Recht auf Widerstand: Sie sagen, dass diese Waffen benötigt werden, um die solidarischen Strukturen aufrechtzuerhalten, weil es gerade um das nackte Überleben geht.  In dieser Hinsicht könnte man Waffenlieferung unterstützen, aber eben unter der Maßgabe, dass es dabei um eine solidarische Transferleistung für solidarische Strukturen und nicht für einen Staat geht. Und drittens werden neben der Frage der Waffenlieferung auch viele andere politische Perspektiven sichtbar, wenn man diese nicht mehr aus einer nationalen, sondern einer abolitionistischen Perspektive sieht, etwa die Solidarität mit Geflüchteten, die Unterstützung von Desertation oder die Fokussierung auf den Wiederaufbau von sozialer Infrastruktur. Was allerdings aus all dem überhaupt nicht folgt, ist die Aufrüstung Deutschlands. Aus einer abolitionistischen Perspektive ist diese vielmehr vehement abzulehnen, weil Deutschland eben keine solidarische Initiative ist, sondern ein aggressiver, imperialistischer, kapitalistischer Staat. Deshalb ist absehbar, wem die militaristische Hochrüstung auf lange Sicht am meisten schaden werden, nämlich den Menschen, die auch jetzt schon vorzeitigen Toden ausgesetzt sind.

Abschließend: Was können wir von einer abolitionistischen Theorie lernen? 

Ich würde drei Punkte besonders hervorheben. Das erste ist, Staatsgewalt als Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Das haben auch viele linke Bewegungen noch immer nicht auf dem Schirm. Der Staat ist nicht einfach nur eine neutrale Instanz, an die man sich mit seinen Forderungen wenden kann, sondern er impliziert Formen von nekropolitischer Gewalt. Für eine emanzipatorische Bewegung ist die Analyse und Kritik dieser Formen grundlegend. Das zweite ist das Zusammendenken unterschiedlicher Dimensionen von Unterdrückung – speziell von race, class und gender. Es muss Schluss gemacht werden mit dieser unproduktiven Gegenüberstellung von Klassen- und „Identitätspolitik“. Stattdessen gilt es, die internen Zusammenhänge wie zum Beispiel von race und capitalism herauszuarbeiten. Und letztlich scheinen mir die Transformationsvorstellungen des Abolitionismus wichtige neue Impulse zu geben. Sie offerieren uns eine mögliche Antwort auf die Frage, wie wir mit den gewaltvollen Ausschlusspraktiken weltweit umgehen müssen, ohne dabei die Vorstellung zu reproduzieren, dass bestimmte ausgeschlossene Gruppen einfach nur inkludiert werden müssten. Es gilt vielmehr, jenseits der bestehenden gesellschaftlichen Parameter zu denken und die Machtstrukturen von unten aufzusprengen und andere gesellschaftliche Konstruktionen an deren Stelle zu setzen. Das finde ich nicht nur eine attraktive, sondern heute eigentlich die einzig realistische Transformationsidee. 


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Der Interviewte

Daniel Loick ist Associate Professor für Politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität Amsterdam. Loick beschäftigt sich insbesondere mit der Ausarbeitung einer kritischen Theorie des Rechts und der Staatsgewalt sowie mit Formen subalterner Sozialität. Im Juli ist der von ihm und Vanessa E. Thompson herausgegebene Reader „Abolitionismus“ bei Suhrkamp erschienen.

Erste Veröffentlichung: 15. Juli 2022, Philosophie Magazin,
www.philomag.de



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